* 1.11.1977 München † 1.9.2022 Wien
Nachruf von Ralf Tuchtenhagen
Am 1. September 2022 ist in Wien nach langer Krankheit unser Kommissionsmitglied Stefan Donecker (1977–2022) verstorben. Wir haben mit ihm einen engagierten und originellen, gleichwohl akribischen Wissenschaftler verloren, der uns nicht nur durch seine eigenen Arbeiten bereichert, sondern die deutschsprachige Baltikumsforschung durch die Betreuung unserer Publikationsreihen, durch die Ausrichtung von Tagungen und seine aktive Teilnahme an den weltweiten wissenschaftlichen Aktivitäten rund um das Baltikum würdevoll und geistreich vertreten hat.
Stefan Donecker wurde 1977 in München geboren. Sein Abitur legte er 1995 in Wien am Österreichischen Bundesgymnasium IX ab – bezeichnender Weise in der Wiener Wasagasse; und wir können nur darüber spekulieren, ob und inwiefern diese Tatsache seine späteren Forschungsinteressen beeinflusst hat. Es folgte in den Jahren 1995 bis 2003 ein Studium der Geschichte und Skandinavistik an den Universitäten Wien und im nordschwedischen Umeå, das er mit dem Magisterium und einer Diplomarbeit zur Konstruktion nationaler Identitäten in Schweden mit Auszeichnung abschloss.
2010 promovierte Stefan am European University Institute in Fiesole, nahe Florenz, bei Martin van Gelderen, mit mir selbst als Opponenten in der Disputation. Seine Dissertation wurde 2017 veröffentlicht in den Quellen und Studien zur baltischen Geschichte unter dem Titel „Origines Livonorum. Frühneuzeitliche Hypothesen zur Herkunft der Esten und Letten“.
Nach Stefans Promotion folgte das unsichere Leben einer postdoc-Existenz, das ihn als Junior Fellow 2010-2011 zunächst ans Alfried Krupp-Wissenschaftskolleg in Greifswald führte, wo er zusammen mit Prof. Jens Olesen und Prof. Matthias Niendorf eine Tagung zu „Abstammungsmythen und Völkergenealogien im frühneuzeitlichen Ostseeraum“ durchführte, deren Vorträge nach bereits schweren Jahren und mitten in der Corona-Pandemie unter gleichem Titel 2020 in den „Greifswalder Studien zur Geschichte des Ostseeraums“ erschienen. Als Kollegiat des Kulturwissenschaftlichen Kollegs der Universität Konstanz wirkte Donecker im Rahmen des dort bestehenden Exzellenzclusters „Kulturelle Grundlagen von Integration“ im Wintersemester 2011/12 und Sommersemester 2012.
2012 erhielt Stefan eine Stelle als Postdoktorand am Institut für Mittelalterforschung der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, die es ihm ermöglichte, mehrere Forschungsprojekte in Angriff zu nehmen, u.a. „“Die ‚germanische Völkerwanderung‘ im Geschichtsdenken der Frühen Neuzeit. Ursprünge und Entwicklung einer Meistererzählung des deutschen Nationalismus, 1500–1830“ und „Ideas of Migration: Migration as an Artefact of Scholarly Thought“ – letzteres in Nachfolge seiner in Konstanz begonnenen Forschungen.
Als Mitglied der „Arbeitsgemeinschaft Arktis und Subarktis“, die sich in einem Zeitraum von 15 Jahren von einer studentischen Initiative zur wissenschaftlichen Organisation entwickelt hatte, gab er in bester, wenngleich aus nordeuropäischer Sicht eigentümlicher österreichischer Tradition der Polarforschung, drei Sammelbände heraus: 1. „Bruchlinien im Eis. Ethnologie des zirkumpolaren Nordens“ in den Beiträgen zum zirkumpolaren Norden (2005), hg. zusammen mit Stefan Bauer und Aline Ehrenfried; 2. „Wege zum Norden“ hg. mit Igor Eberhard/Markus Hirnsperger in den Wiener Forschungen zu Arktis und Subarktis (2014) über wirtschaftliche, ethnologische, biographische und museologische Aspekte der Polarregionen, und 3. „Arktis und Subarktis“ (2016) zur arktischen und subarktischen Entdeckungs- und Kolonialgeschichte seit dem Mittelalter, hg. zusammen mit Gertrude Saxinger und Peter Schweitzer.
Stefans andere zentrale Forschungsregion war der Ostseeraum. Hier gab er Sammelbände heraus zu: 1. „Stereotype(n) des Ostseeraumes“, hg. zusammen mit der 2020 verstorbenen Imbi Sooman; 2. „The ‚Baltic Frontier‘ Revisited“ zur Kreuzzugsperiode im Baltikum, sowie 3. „Imagining the Supernatural North“, hg. mit Eleanor Rosamund Barraclough/Danielle Marie Cudmore, mit Beiträgen zu voraufklärerischen Aspekten der Ideen- und Mentalitätsgeschichte Nordeuropas.
Donecker war neben seinen Publikationen Kassier der von Imbi Sooman geleiteten „Österreichisch-Estnischen Gesellschaft“ in Wien und – für unsere Kommission besonders bedeutsam, Mitherausgeber der „Schriften der Baltischen Historischen Kommission“, wo er selbst unter der Nummer 26 den Sammelband Geschichtsschreibung im frühneuzeitlichen Baltikum herausgegeben hat, der allerdings in diesem Jahr erst posthum erschienen ist.
Doneckers Forschungsschwerpunkte lagen vor allem in der frühen Neuzeit. Sie bewegten sich zwischen Geistes-, Ideen-, Kultur-, Religions- und Gelehrtengeschichte, besonders die wissenschaftliche Konstruktion und kulturelle Wahrnehmung von „Nördlichkeit“ und übernatürlichen Phänomenen (Hexerei, Werwölfe) hatten es ihm angetan. Einen weiteren Schwerpunkt bildete die Geschichte nationaler und prä-nationaler Identitätsbildungen, zwischen Nord- und Nordosteuropa. Er widmete sich aber durchaus auch Themen, die nicht dem konventionellen Wissenschaftshabitus entsprachen, wie etwa: der Kuss in Popkultur, Kunst, Politik und Kulturgeschichte oder seine Mitgliedschaft im Arbeitskreis Geschichtswissenschaft und Digitale Spiele.
Stefan war neben seiner Forschungstätigkeit in seiner Wiener Zeit immer auch als Dozent aktiv. Am Institut für Geschichte und am Institut für Kultur- und Sozialanthropologie der Universität Wien, am Institut für Alte Geschichte und Altorientalistik der Leopold-Franzens-Universität Innsbruck, am Nordeuropa-Institut der Humboldt-Universität zu Berlin und an der Historisch-Philosophischen Fakultät der Universität Lettlands in Riga nahm er jeweils und teilweise wiederholt Lehraufträge wahr. Dabei war ihm besonders die Einheit von Lehre und Forschung wichtig. Und für beide entwickelte er eine große Leidenschaft. Furore machte beispielsweise sein Seminar „Antike im Film“ in Innsbruck, das historisch-wissenschaftliche Forschungsergebnisse mit Fiktionen filmischer Antiken-Inszenierung verglich, um so neue Aspekte und Fragestellungen der dort behandelten Themen zu generieren.
Stefan besaß einen hintergründigen, bisweilen auch schwarzen Humor, den er aber stets mit einer gewissen Verschmitztheit vortrug. Zu Kooperationen jeglicher Art war er stets bereit und zu begeistern. Sie war bereichernd und erfüllend und führte immer zu neuen Denkimpulsen und oft auch neuen Forschungsprojekten. Vieles, was wir und andere mit uns zusammen angestoßen haben, bleibt nun bloße Idee. Unsere Erinnerung daran wird aber hoffentlich das eine oder andere wieder aufgreifen und neue Felder wissenschaftlicher Erkenntnis erschließen.
Die BHK hat einen reich begabten Hoffnungsträger, ich selbst und viele andere aus unseren Reihen einen guten Freund und Kollegen verloren. Wir werden Dich vermissen, Stefan. Du warst für viele von uns Inspiration, Motor, treuer Begleiter.
Ralf Tuchtenhagen