* 7.2.1943 Kassel, † 8.7.2016 Berlin
Nachruf von Klaus Neitmann
Am 8. Juli vorigen Jahres ist unser Mitglied Dr. Stefan Hartmann nach längerer schwerer Krankheit in Berlin im Alter von 73 Jahren verstorben. Er hat unserer Kommission 46 Jahre lang angehört; 1970 war die junge, ein Jahr zuvor mit einem frühneuzeitlichen baltischen Thema frisch promovierte Nachwuchskraft von ihr kooptiert worden.
In Kassel am 7. Februar 1943 geboren, studierte Stefan Hartmann ab dem Sommersemester 1962 vornehmlich an der Universität Marburg Geschichte, insbesondere Osteuropäische Geschichte, slawische Sprachen und Germanistik und wurde auf Anregung von Friedrich Benninghoven, der damals im Göttinger Staatlichen Archivlager die 1944 ausgelagerten Bestände des Revaler Stadtarchivs betreute und für deren historische Bearbeitung Doktoranden zu gewinnen suchte, von seinem Doktorvater, dem Osteuropahistoriker Peter Scheibert, für seine Dissertation auf ein Thema der Revaler Stadtgeschichte gelenkt. „Reval im Nordischen Krieg“ wurde von Hartmann in Gänze unmittelbar aus den Archivalien erarbeitet. Die Bekanntschaft und der Umgang mit archivalischen Zeugnissen entschieden und bestimmten seinen Berufsweg. Seine Laufbahn zeichnete sich an ihren drei Stationen am Staatlichen Archivlager in Göttingen 1971-1973, am Niedersächsischen Staatsarchiv in Oldenburg 1973-1978 und am Geheimen Staatsarchiv Preußischer Kulturbesitz in Berlin 1979-2008 durch eine ungewöhnliche Geradlinigkeit aus. Die frühe Begegnung mit den Beständen des Archivlagers, zuerst mit denen des Revaler Stadtarchivs, dann und vor allem mit denen des Königsberger Staatsarchivs, prägte auf Dauer allen anderen Beschäftigungen zum Trotz seine archivarische Tätigkeit, und so war sein Blick von vornherein und unausgesetzt auf die historischen deutschen Ostgebiete, vornehmlich auf Ost- und Westpreußen, und auf deren Nachbarländer, vornehmlich auf Polen und auf das Baltikum, gerichtet.
Stefan Hartmann war Archivar mit Leib und Seele. Dem frühneuzeitlichen Archivgut in den Magazinen seiner Häuser galt seine Leidenschaft, ihm hat er über Jahrzehnte hinweg seine unermüdliche Arbeitskraft gewidmet. Im Mittelpunkt standen dabei sowohl die archivische Erschließung von Akten des 16. bis 18. Jahrhunderts durch die Vorlage von Findbüchern und Editionen zur Ermöglichung ihrer zielgerichteten Benutzung als auch ihre historische Auswertung in thematischen Untersuchungen. Hartmann war ein klassischer Historiker-Archivar, der die archivarischen Kärrnerdienste mit der geschichtswissenschaftlichen Darstellung zu verbinden trachtete. Allerdings lag sein Schwerpunkt weniger auf der Auswertung der Archivalien, mehr auf ihrer Erschließung, in der er seine nachhaltigen Ergebnisse erreicht hat. Auch in seinen historischen Untersuchungen bestand sein erstes Anliegen darin, den Inhalt von Geschäftsschriftgut, das sein Interesse geweckt hatte, zu referieren und vorzustellen, während die Analyse unter dem Mangel einer klaren Fragestellung litt und sich allzu sehr der Perspektive des jeweiligen Bestandsbildners anvertraute. Aber in der Verzeichnung umfangreicher Aktengruppen und in der Edition ausgewählter Quellengruppen hat Hartmann ebenso quantitativ wie qualitativ betrachtet großartige Leistungen vollbracht, die seinen Namen im Gedächtnis der Nachwelt bewahren werden. Er konzentrierte sich dabei neben dem Revaler Archivgut, aus dem er nach seiner Dissertation noch einige Aufsätze und kleine Editionen zur Stadtgeschichte veröffentlichte, auf die frühneuzeitliche Überlieferung des ehemaligen Preußischen Staatsarchivs Königsberg. Dabei begann er in Göttingen und in Berlin wie zahlreiche andere seiner damaligen Kollegen mit der Erarbeitung von Findbüchern zu einzelnen Abteilungen des sog. Etatsministeriums, der schriftlichen Hinterlassenschaft der Königsberger Zentralverwaltung über die inneren Verhältnisse des Herzogtums Preußen bzw. der Provinz Ostpreußen.
Als sich die Beendigung dieses Vorhabens in den frühen 1980er Jahren abzeichnete, setzte Friedrich Benninghoven, der inzwischen zum Direktor des Geheimen Staatsarchivs aufgestiegen war, ein ebenso umfassendes Nachfolgeprojekt in Gang und lenkte damit nochmals Hartmanns Weg in die fortan maßgebliche Richtung: die Erschließung des „Herzoglichen Briefarchivs“ (HBA), des aus losen Briefschaften bestehenden Bestandes mit den Korrespondenzen der Herzöge in Preußen und ihrer Oberräte aus dem 16. und frühen 17. Jahrhundert, vornehmlich ihres diplomatischen Schriftverkehrs, unter den deutschen territorialstaatlichen Überlieferungen des Reformationszeitalters eine der bedeutendsten; der Bestand war freilich auf Grund der bloßen Vorordnung und unzulänglichen Verzeichnung, die im Staatsarchiv Königsberg am Ende des 19. Jahrhunderts vorgenommen worden war, nur schwer benutzbar und in seinen Inhalten kaum zu erkennen. Hartmann wurde zunächst die Abteilung „C 1 Ermland“ mit dem Briefwechsel zwischen den preußischen Herzögen und den ermländischen Bischöfen von 1525 bis 1618 übertragen, eine Aufgabe, an deren Ende 1994 drei Bände mit insgesamt 2900 Vollregesten standen. Ob die Auswahl gerade dieses Bestandsteiles von Benninghoven glücklich getroffen war, sei dahingestellt; jedenfalls überwiegen die regionalen Betreffe, nur selten stößt man auf Gegenstände von allgemeinhistorischem Rang im konfessionellen Zeitalter.
Umso trefflicher fiel die Entscheidung über die nachfolgende Auswahl einer anderen Abteilung des HBA aus, die Entscheidung zur Regestierung von dessen Abteilung „D Livland“, was insofern nahelag, als diese nach dem Ausscheiden des Projektmitarbeiters Ulrich Müller, der die ersten Archivkästen für die Jahre 1525-1534 bearbeitet hatte, zu verwaisen drohte. In sechs dicken Bänden von insgesamt 3.400 Seiten Umfang, die in regelmäßiger Folge durchschnittlich alle zwei Jahre zwischen 1999 und 2008 in der Schriftenreihe des Geheimen Staatsarchivs erschienen, breitete Hartmann den Quellenstoff unter dem schlichten Titel „Herzog Albrecht von Preußen und Livland“ für die dreieinhalb Jahrzehnte zwischen 1534 und 1570 in ca. 3160 Vollregesten vor dem Leser aus; tatsächlich ist die Zahl der Regesten noch wesentlich höher, weil die häufigen, vielfach umfangreichen Anlagen zu den Geschäftsbriefen zusätzlich gesondert gezählt worden sind. Die Abteilung „Livland“ des HBA beinhaltet in ihrem Kern in dem von Hartmann bearbeiteten Zeitraum den Briefwechsel zwischen Herzog Albrecht in Preußen und seinem jüngeren Bruder, Erzbischof Wilhelm von Riga, und dessen Räten, die Albrecht Wilhelm zumeist aus seinem preußischen Personalbestand zur Seite gestellt hatte. Die Korrespondenzen sind von außergewöhnlichem Inhaltsreichtum und Inhaltsdichte, weil Wilhelm in seiner politischen Unselbständigkeit ständig seinen erfahreneren Bruder um dessen Ratschläge bat und weil seine Räte neben oder gar gegen ihn unmittelbar mit Albrecht über die erzbischöfliche Politik und die Lage des Erzstiftes kommunizierten. Dieses ungewöhnliche Dreiecksverhältnis gewährt einen Einblick in die inneren Überlegungen und Entscheidungsprozesse der Beteiligten, der dem Historiker gemeinhin in offiziellen diplomatischen Schriftwechseln verwehrt wird, wie etwa Schirrens Quellen zur Geschichte des Untergangs livländischer Selbständigkeit, die aus der Registratur des livländischen Ordensmeisters schöpfen, zeigen. Und die Sachthemen der regestierten HBA-Quellen reichen so weit und sind so vielfältig, daß die unterschiedlichsten historischen Neigungen bedient werden können. Es werden nicht nur die politischen Beziehungen des Rigischen Erzbischofs zu den anderen geistlichen Landesherrschaften Livlands mit dem Deutschen Orden an der Spitze und zu den umliegenden Mächten, zum römisch-deutschen Kaiser und zu den Königen von Polen, Dänemark und Schweden sowie dem Großfürsten von Moskau, beleuchtet, die Hartmann selbst in seinen Einleitungen und begleitenden Aufsätzen hervorgehoben hat. Darüber hinaus ermöglichen die Dokumente eine Analyse der inneren Struktur des Erzstiftes, bezeugen ausgiebig den erzbischöflichen Hof mit seinem Personal, seiner Versorgung und Finanzierung sowie die Beteiligung des Domkapitels und der Ritterschaft an der Regierung des Territoriums. Wer Hartmanns Bände aufmerksam studiert, spürt bald, daß er mitten hineingeführt wird in einen wesentlichen kirchen- und territorialpolitischen Umbruch in Livland und in Nordosteuropa von europäischem Rang. Die archivarische Leistung vermag in ihrem vollen Umfange nur zu erkennen, wer einmal die Archivkartons in dem von Hartmann vorgefundenen Zustand gesichtet hat. Er hatte die sehr grobe Vorordnung seines Königsberger Vorgängers zu prüfen, zu korrigieren und in eine abschließende Feinordnung zu bringen, dabei die Briefe streng chronologisch zu reihen, die zahlreichen undatierten Anlagen den jeweiligen Bezugsschreiben zuzuordnen und seine vorzüglichen paläographischen Fähigkeiten, die von den eigenwilligen Schriftzügen Erzbischof Wilhelms bis zu den flüchtig niedergeschriebenen Konzepten gefordert waren, unter Beweis zu stellen. Hartmann hat die ursprüngliche, sehr knappe und unzureichende Verzeichnungsrichtlinie Benninghovens in seiner eigenen Praxis fortentwickelt und zur Meisterschaft gebracht. Er fertigte Vollregesten an, in einer Ausführlichkeit, die dem Leser gestattet, die Gedankengänge der Briefschreiber bis ins Detail hinein nachzuvollziehen und gemeinhin auf die Benutzung der Originale zu verzichten. Die Regesten zeichnen sich nämlich, wie Stichproben belegten, durch hohe Verläßlichkeit aus; Hartmann ist es gelungen, die unendlich vielen Inhalte der Vorlagen sachlich zutreffend und vollständig wiederzugeben. Dazu ist er von dem einst vorgegebenen Nominalstil abgewichen und immer mehr zum Verbalstil mit vollen ausformulierten Sätzen übergegangen, die es viel leichter ermöglichen, die Argumentation der Briefe verständlich auszudrücken.
Hartmanns Quellencorpus ist ganz außergewöhnlich, wenn man vergleichbare Archivbestände livländischer Herrschaftsträger des Reformationszeitalters in der ersten Hälfte und in der Mitte des 16. Jahrhunderts betrachtet, denn viele von ihnen haben unter der Ungunst der kriegerischen Zeiten im Baltikum sehr gelitten und sie bestenfalls in Trümmern überstanden, angefangen mit dem Archiv der Rigaer Erzbischöfe, das bis auf geringe urkundliche Reste untergegangen ist. Der korrespondierenden Überlieferung im Archiv von Wilhelms gewichtigstem Ratgeber in Preußen kommt daher vor allem wegen ihres intimen Charakters für die livländische Geschichte des Reformationszeitalters überragende Bedeutung zu, und Hartmann hat es verstanden, sie in seiner Edition angemessen für die internationale Forschung zur Geltung zu bringen und bereitzustellen. Ich stehe nicht an zu behaupten, daß seine sechs Bände über Herzog Albrecht von Preußen und Livland die beste und gewichtigste Quellenausgabe ist, die die deutschbaltische Geschichtsforschung in Deutschland seit 1945 veröffentlicht hat. Das Ergebnis ist entscheidend seiner geradezu ungeheuren Arbeitsenergie und Konzentrationskraft zu verdanken: Eine Aufgabe, die er einmal angepackt hatte, führte er mit ungebrochenem Nachdruck, immer das Ziel vor Augen, bis zum erfolgreichen Ende durch. Ohne diese persönliche Eigenschaft wären wir von ihm nicht so sehr bereichert worden.
Das 66. Baltische Historikertreffen im Mai 2013 in Göttingen, eine gemeinsame Veranstaltung der Baltischen Historischen Kommission und der Historischen Kommission für ost- und westpreußische Landesgeschichtsforschung, behandelte „Preußen und Livland im Zeichen der Reformation“, zum Zeichen der Anerkennung der Leistung Stefan Hartmanns für die Erschließung eines zentralen reformationsgeschichtlichen Quellenfundus, und ihm war der nachfolgende Tagungsband zu seinem 70. Geburtstag gewidmet. Der Dank, den wir baltischen Historikerinnen und Historiker ihm schulden, wird ihm nicht nur durch die heutige Erinnerung an seine Person und seine wissenschaftlichen Publikationen dargebracht, sondern in erster Linie durch die Benutzung seiner Quellenwerke, von deren Gehalt wir noch lange zehren werden – und genau dieses wäre sicherlich in Stefan Hartmanns ureigenem Sinne.
Klaus Neitmann