Boris Meissner

* 10.8.1915 Pleskau, † 10.9.2003 Köln
Nachruf von Gert von Pistohlkors

Nachruf am 5. Juni 2004 auf dem 57. Baltischen Historikertreffen in Göttingen

Leser der „Baltischen Briefe“ haben in der Oktobernummer 2003 eine ganz ungewöhnliche Ehrung miterleben können: der frühere Staatspräsident Estlands, Dr. h.c. Lennart Meri, nahm in den „Baltischen Briefen“ auch im Namen seiner Familie mit einer eigenen Todesanzeige Abschied von Prof. Dr. Dr. h.c. Boris Meissner, der am 10. September 2003 in Köln verstorben ist. Auch in der estnischen Tagespresse hat Lennart Meri als erster den Tod von Boris Meissner angezeigt und damit der Tatsache Rechnung getragen, daß das freie Estland dem Verstorbenen einen besonderen Dank weiß im Hinblick auf sein beharrliches Eintreten für den völkerrechtlichen Fortbestand der baltischen Staaten über die völkerrechtswidrige bewaffnete Interventionsbesetzung im Juni 1940 und im Herbst 1944 hinaus. Wie unser neu gewähltes Ehrenmitglied Dietrich A. Loeber in seinem Nachruf in den „Baltischen Briefen“ ausführte, war Meissner maßgeblich an der Formulierung des „Vorbehalts“ beteiligt, den Konrad Adenauer bei seinem Moskaubesuch 1955 im Namen der Deutschen Bundesregierung im Hinblick auf die Nichtanerkennung der Einverleibung der baltischen Staaten in die Sowjetunion zu Protokoll gab und der nach den Worten Loebers mit dazu beigetragen hat, dem völkerrechtlichen Fortbestand der baltischen Staaten in den Augen der Welt Anerkennung zu verschaffen.

Boris Meissner ist am 10. August 1915 in Pleskau geboren und studierte vor der Umsiedlung von 1932 bis 1939 in Dorpat Rechtswissenschaften und Volkswirtschaftslehre. In Dorpat hat er sich als Spitzenvertreter der deutschen Studierenden an der Alma mater Tartuensis hervorgetan und war Mitglied der Korporation „Neobaltia“. Nach Kriegsteilnahme und Gefangenschaft war der Diplomvolkswirt und Jurist von 1947 bis 1953 Wissenschaftlicher Assistent und Referent für Ostrecht an der Forschungsstelle für Völkerrecht und ausländisches öffentliches Recht an der Universität Hamburg. 1954 wurde er mit einer grundlegenden Arbeit bei Prof. Dr. Rudolf Laun in Hamburg zum Dr. iur promoviert, die 1956 unter dem Titel „Die Sowjetunion, die baltischen Staaten und das Völkerrecht“ veröffentlicht worden ist. „Heute geht es darum,“ so schrieb Meissner in der Einleitung, „dem nationalen Imperialismus, der sich weltanschaulicher Verhüllungsideologien bedient, völkerrechtliche Grenzen zu setzen“. Die Gefährdung der staatlichen Existenz der baltischen Nationen habe sich nicht zuletzt daraus ergeben, daß sich die Konsolidierung ihrer Staatlichkeit im Rahmen einer unvollkommenen Friedensordnung vollzog, die 1919 ohne Mitwirkung Deutschlands und Rußlands als den nächsten Nachbarn der baltischen Staaten geschaffen worden sei. Im übrigen glaubte Meissner nachweisen zu können, daß die baltische Frage viele gemeinsame Züge mit der deutschen Frage aufzuweisen habe. Beide Probleme könnten nur überwunden werden, wenn dem Völkerrecht zum Siege verholfen werde.

Mit dieser Arbeit war Meissners Lebensweg als Diplomat und Professor nahezu vorgezeichnet. Zunächst arbeitete er von 1953 bis 1959 im auswärtigen Dienst, zuletzt als Legationsrat I. Klasse; sodann übernahm er 1959 die neugeschaffene Professur für Ostrecht, Politik und Soziologie Osteuropas an der Universität Kiel und ging dann 1964 für beinahe 40 Jahre nach Köln, wo er bis zu seiner Emeritierung Professor für Ostrecht und Direktor des Instituts für Ostrecht an der Universität Köln gewesen ist.

Es ist ohne Beispiel, in welchem Umfang Boris Meissner die ostwissenschaftlichen Institutionen in der Bundesrepublik entwickelt und geleitet hat. Er war der Initiator und Gründungsvorsitzende des „Bundesinstituts für ostwissenschaftliche und internationale Studien“ in Köln, von 1959 bis 1973 Mitglied des Direktoriums des „Ostkollegs“ der Bundeszentrale für politische Bildung, im gleichen Zeitraum Vorstandsmitglied der Deutschen Gesellschaft für Osteuropakunde, Berlin (seit 1973 Ehrenmitglied). Im Jahr 1981 wurde er Ordentliches Mitglied der Rheinisch-Westfälischen Akademie der Wissenschaften, Düsseldorf. Der Mitherausgeber zahlreicher wissenschaftlicher Zeitschriften war von 1965 an Präsident des „Göttinger Arbeitskreises“ und hat dafür gesorgt, daß sich daraus zu Beginn der 1990er Jahre das „Institut für Deutschland- und Osteuropaforschung“ in Göttingen etablieren konnte, das zunächst auch wissenschaftliche Mitarbeiter in Arbeit und Brot brachte, die sich mit baltischen Fragen beschäftigten. Ohne diese Anstöße gäbe es heute nicht das Nordost-Institut in Lüneburg und Göttingen mit einigen hauptamtlichen wissenschaftlichen Mitarbeitern in Lüneburg, die sich fast ausschließlich baltischen Themen zuwenden können.

Erst im Jahr 1981, also mit fast 66 Jahren, wurde der vielbeschäftigte Boris Meissner Ordentliches Mitglied der Baltischen Historischen Kommission. Er hat sich tatkräftig an ihrer Arbeit beteiligt und vor allem die Erforschung der Zeitgeschichte zu fördern gesucht. Zusammen mit Wilfried Schlau und Dietrich A. Loeber gründete er alsbald die „Studiengruppe für gegenwartsbezogene Baltikumforschung“, die stark von der Initiative des Ehepaars Meissner lebte und zahlreiche Tagungen zumeist mit Referenten aus dem Umfeld oder der Mitgliedschaft der Baltischen Historischen Kommission in Schlangenbad, Köln und später vor allem auch in Travemünde durchführte. Die Publikationen zu baltischen Themen vornehmlich des 20. Jahrhunderts, die daraus entstanden, können hier gar nicht im einzelnen aufgezählt werden. Rechtzeitig zur Wende von 1991 erschien eine gewichtige Sammlung von Aufsätzen in zwei Bänden unter dem programmatischen Titel „Die baltischen Nationen. Estland. Lettland. Litauen“ im Markus-Verlag in Köln. Etwa zehn weitere Aufsatz-Sammelbände wurden in lockerer Folge zumeist in der Reihe „Bibliotheca Baltica“ veröffentlicht. Dabei gelang Meissner offenbar mühelos die Finanzierung dieser durchaus umfangreichen Bände durch öffentliche Geldgeber; auch hat er stark dazu beigetragen, daß estnische, lettische, russische und andere Teilnehmer aus Ostseeanrainer-Staaten sich durch gedruckte Beiträge in Deutschland bekannt machen konnten. Manche seiner eigenen Aufsätze sind in dieser Zeit ins Estnische und Russische übersetzt worden. Insgesamt hat er über 90 Bücher geschrieben oder mit herausgegeben und mehr als 500 Aufsätze verfaßt, die sich zumeist mit der Sowjetunion, ihren Nachfolgestaaten, Ostmitteleuropa und dem Baltikum, in Sonderheit Estland, beschäftigen. Zwei Festschriften, eine zum 50. und eine zum 70. Geburtstag, sind ihm gewidmet worden. Zwei Verzeichnisse seiner Schriften aus den Jahren 1985 und 1995 geben einen nahezu vollständigen Überblick über seine vielseitige Publikationstätigkeit. Meissner hat sich durchaus auch in späteren Jahren fachlich exponiert, wenn er z. B. mit reizvollen Wertungen „Entwicklung und Aufbau der Osteuropaforschung in Deutschland“ in einem gedruckten Dorpater Aulavortrag vom 8. Mai 1996, dem Jahr seiner Ehrenpromotion in Tartu/Dorpat, charakterisierte. Am Ende seines Lebens wurden ihm zahlreiche Ehrungen zuteil: er erhielt den Marienlandorden 1. Klasse 1995 aus der Hand von Lennart Meri; 1996 wurde er, wie erwähnt, Ehrendoktor der Universitas Tartuensis, seiner alten alma mater, was ihn sicher besonders bewegt haben wird, wie auch die Ehrenmitgliedschaft in der Gelehrten Estnischen Gesellschaft von 1838, die nach der Wende wiedergegründet wurde. Den Kulturpreis der Deutschbaltischen Landsmannschaft im Bundesgebiet bekam er 1992, und im Jahr 1995 wählte schließlich die Baltische Historische Kommission den 80-jährigen zu ihrem Ehrenmitglied und erwies ihm damit die höchste Ehre, die sie zu vergeben hat.

Wir haben ihn und seine Frau Irene geb. Sieger bewundert für ihre immense Arbeitskraft, ihre geistige Präsenz, ihr Organisations- und Gastgebertalent und ihren Humor auf den zahlreichen Tagungen, die sie geleitet und angeregt haben. Boris Meissner war ein wirklicher Freund der Balten und der Menschen, die er für das Baltikum interessieren konnte, ein Botschafter des Völkerrechts und der Völkerverständigung.

Zur Trauerfeier und zur Beerdigung in Köln am 25. September 2003 kamen von fern und nah zahlreiche Menschen mit einem jeweils ganz unterschiedlichen Hintergrund. Sie hatten alle eine persönliche Beziehung zu ihm und seiner vielfältigen Arbeit.
Wir gedenken seiner in Trauer und Dankbarkeit und werden ihn sehr vermissen.

Gert von Pistohlkors